Nächstes Jahr im Mai will die Europäische Kommission das neue Reiseinformations- und Reisegenehmigungssystem (ETIAS) in Betrieb nehmen. Alle visumfrei in die EU Reisenden müssen dann vor ihrem Grenzübertritt persönliche Daten über ein Internetformular hinterlegen. Dies betrifft nach derzeitigem Stand rund 1,4 Milliarden Menschen aus über 60 Ländern.
Im Rahmen der Überprüfung werden die Personendaten mit anderen Polizeidatenbanken abgeglichen. Ergibt sich dabei ein „Treffer“, wird der Vorfall manuell bearbeitet und zur Prüfung an die nationalen ETIAS-Stellen in den Mitgliedstaaten weitergeleitet. Zuständig ist hierfür die Grenzagentur Frontex, die mit rund 250 Beamt:innen die Zentralstelle des ETIAS betreibt.
EU-Zugriff auf zwei Datenbanken
Im Rahmen eines ETIAS-Vorgangs sollen auch Interpol-Datenbanken abgefragt werden. Die internationale Polizeiorganisation betreibt 19 verschiedene Fahndungsdatenbanken nach Personen, Sachen und Dokumenten; zu den bekanntesten gehören die sogenannten „Rotecken“ („Red Notices“) zur Festnahme einer Person. Mit „Gelbecken“ fahndet Interpol nach Vermissten, über „Blauecken“ wollen Polizeibehörden den Aufenthaltsort von Gesuchten ermitteln.
Laut der 2018 beschlossenen ETIAS-Verordnung fragt das Zentralsystem aber keine Personenfahndungen bei Interpol ab. Stattdessen greift ETIAS auf die Datenbank für gestohlene und verlorene Reisedokumente (SLTD) und die Datenbank mit Reisedokumenten, die zu einer Fahndung gehören (TDAWN) zu. Auch im Projekt zur „Interoperabilität“, in dem die EU-Kommission mehrere Datenbanken zusammenlegt, erfolgt ein solcher Zugriff über ein neues „Europäisches Suchportal“.
Missbräuchliche Nutzung von Fahndungsersuchen
Immer wieder nutzen Staaten die Interpol-Ausschreibungen zur politischen Verfolgung von Oppositionellen. Laut Artikel 3 seiner Statuten ist es der Organisation aber untersagt, dies zu unterstützen. Fahndungsersuchen betreffen oft auch Personen (und deren Dokumente), die in einem anderen Staat Asyl erhalten haben. Dies widerspricht Artikel 2, der die Einhaltung von Menschenrechten fordert. Das EU-Parlament hat vor wenigen Tagen eine Studie veröffentlicht und im Anhang viele derartige Fälle dargestellt, darunter die Festnahme des in Deutschland lebenden Schriftstellers Doğan Akhanlı in Spanien.
Ob eine über Interpol verteilte Fahndung missbräuchlich ist, sollen die Nationalen Zentralbüros der 195 Interpol-Mitgliedstaaten spätestens dann überprüfen, nachdem eine gesuchte Person festgenommen wurde. Nicht immer werden die Fahndungen dann gelöscht. Explizit schreibt etwa das deutsche Bundeskriminalamt Personen aus, deren Fahndung Interpol selbst zurückzog.
Wenn EU-Informationssysteme zukünftig auf Interpol-Datenbanken zugreifen, wäre auch die EU-Kommission für eine solche Überprüfung in der Pflicht. Die ETIAS-Verordnung bestimmt hierzu, dass bei Abfragen „dem für die Interpol-Ausschreibung Verantwortlichen keine Daten offengelegt werden“. Die Umsetzung dieser Vorgabe soll nach einer Empfehlung der Kommission und einem Beschluss des Rates in einem Kooperationsabkommen mit Interpol geregelt werden.
Langwierige Verhandlungen für Kooperationsabkommen
Mittlerweile hat sich der Beginn der Verhandlungen für ein solches Kooperationsabkommen derart verspätet, dass damit auch der Start des ETIAS infrage steht. Die Schuld daran soll Interpol tragen, heißt es in Brüssel. Allerdings hatte der Rat erst im Juli ein Mandat zur Aufnahme der Verhandlungen erteilt. Im Dezember fand die erste Verhandlungsrunde statt, die nächste ist für den 23. Februar geplant.
Sollte es also wie vermutet erst Ende dieses Jahres eine Einigung geben, müsste der Vertrag anschließend von der Interpol-Generalversammlung ratifiziert werden, diese findet aber erst im November 2023 statt. Als Alternative könnten das ETIAS und das Projekt „Interoperabilität“ zwar in Betrieb gehen, jedoch ohne Zugriff auf Interpol-Datenbanken.
Kommission könnte Austausch unter Mitgliedstaaten fördern
Angesichts der Komplexität des geplanten Abkommens wird eine Einigung vermutlich sogar deutlich länger dauern. Denn die EU-Kommission will in Öffnungsklauseln auch den Agenturen Europol, Frontex, Eurojust, eu-LISA und der Europäischen Staatsanwaltschaft den Zugang zu den Interpol-Datenbanken erleichtern. Europol soll im Rahmen ihrer neuen Verordnung in operativen Ermittlungen mit Interpol zusammenarbeiten, auch dies soll in dem Abkommen geregelt werden.
Die Zusammenarbeit von Europol und Interpol hätte beinahe auch den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen zu der neuen Europol-Verordnung in der vergangenen Woche verzögert. Auf Vorschlag des rumänischen Europaabgeordneten Dragoș Tudorache (Renew-Fraktion) sollte Europol beauftragt werden, die „Rotecken“ auf ihre missbräuchliche Verwendung zu prüfen. Sowohl der Rat als auch die Kommission lehnten diese Vorgabe ab.
Die vom Parlament in der Europol-Verordnung geforderte Kontrolle missbräuchlicher „Rotecken“ durch die Agentur verschwand schließlich in einem Deal in der Versenkung. Die Abgeordneten stimmten zu, den Änderungsantrag zurückzuziehen. Im Gegenzug haben die Mitgliedstaaten im Rat grünes Licht gegeben, Europol mit der Überprüfung „ausländischer Direktinvestitionen“ zu beauftragen. Im Fokus stehen Unternehmen, die Überwachungstechnologien für Polizeien und Geheimdienste entwickeln und herstellen. Sieht Europol dadurch die „Sicherheit oder die öffentliche Ordnung“ in Gefahr, kann die EU „restriktive Maßnahmen“ gegen die ausländischen Einrichtungen beschließen.
Kommission und Rat kündigen politische Erklärungen an
Gegenüber netzpolitik.org erklärt Tudorache, dass Europol „möglicherweise nicht die besten Voraussetzungen für eine gründliche Überprüfung der Interpol-Rotecken hat“. Aus diesem Grund habe die Fraktion den Änderungsantrag für die Europol-Verordnung schließlich aufgegeben. Das Thema sei aber nun auf der Tagesordnung in Brüssel. Möglich wäre etwa, dass die EU einen Mechanismus einrichtet, über den sich die Mitgliedstaaten über politisch motivierte Fahndungen austauschen können. Sowohl die Kommission als auch der Rat hätten hierzu politische Erklärungen angekündigt.
Allerdings hatte der Rat die Kommission bereits vor fünf Jahren aufgefordert, die Mitgliedstaaten bei der Erkennung missbräuchlicher Fahndungsersuchen zu unterstützen. Ein hierzu angekündigter Workshop zur Festlegung weiterer Schritte hat jedoch nie stattgefunden. Stattdessen sieht die Kommission vor allem Interpol in der Pflicht, Fahndungen vor deren Verteilung auf politisch motivierten Missbrauch zu überprüfen und damit effektiv zu verhindern. Tatsächlich nahm eine solche Kontrollkommission bei Interpol 2019 ihre Arbeit auf, sie bearbeitet aber lediglich Altfälle und kommt nur schleppend voran.
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